J. Jung: Die Schweiz im 19. Jahrhundert

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Titel
Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Jung, Joseph
Erschienen
Zürich 2020: NZZ Libro
Anzahl Seiten
678 S.
von
Marcel Berni, MILITÄRAKADEMIE AN DER ETH ZÜRICH (MILAK)

In fünf Hauptteilen, die alle auch als Bücher für sich hätten publiziert werden können, behandelt der Wirtschafts- und Kulturhistoriker Joseph Jung in diesem reichhaltigen Werk die vielfältige Tourismus-, Verkehrs-, Wirtschafts-, und Migrationsgeschichte der Schweiz im langen 19. Jahrhundert. Bereits im Vorwort wird klar, dass der Autor die vorliegende Studie als Kulminationspunkt seines akademischen Arbeitens betrachtet. Er vergleicht sich mit einem «Reisenden, der auf dem letzten Hügel vor der Stadt innehält und zurückblickt, um sein Land noch einmal als Ganzes ins Auge zu fassen.» (S. 4).

Jung will mit diesem «mehrdimensionalen Panorama» ein «Lebensgefühl» dieser im Wandel begriffenen Epoche vermitteln (ebd.). Das tut der Autor insbesondere mit der Zuhilfenahme von visuellen Quellen. 133 kommentierte Abbildungen und Gemälde laden zwischen den sorgfältig aneinander gereihten Textblöcken zum Verweilen und Staunen ein. Landschaftsmaler wie Giovanni Segantini, Gabriel Lory und Johann Jakob Meier machen den Anfang, gefolgt von Albert Anker, Edouard Kaiser und Adolph Menzel. Entsprechend dient die hiesige Bergwelt, die im 19. Jahrhundert entdeckt, bestiegen, vermessen, besungen und künstlerisch verklärt wurde, als Einstieg in dieses Opus magnum. Die Alpen galten nicht länger als gefährlich und furchteinflössend, sondern wurden alsbald als majestätischer und natürlicher Gegenpol zur «dekadenten» Stadt wahrgenommen. Folglich entstand der Tourismus in enger Abhängigkeit zu dieser Alpenentdeckung. Touristen, Naturforscher, Abenteurer, Lustreisende, Alpinisten und Reiseführer trugen zum Florieren der ersten Kur- und Wanderdörfer am Fuss der Berge bei. So entstanden (sub‐) alpine Hotels, Gasthäuser und Herbergen, die die Berge zum Identitätsmarker und nationalen Symbol werden liessen. Damit einher gingen auch die wissenschaftliche Vermessung, Kartierung und Erforschung der Alpen. Gelehrte Explorationen und touristische Entdeckungs- und Erholungsreisen führten spätestens in der Belle Époque zu einer «im Ausland um sich greifenden Alpenbegeisterung» (S. 31). Eine Auswertung der Gäste und Touristen und ihrer Herkunftsländer beschliesst den ersten Teil, den Jung unter dem Obertitel «Attraktionen – die Entdeckung der Berge» (S. 7–190) abhandelt.

Im darauffolgenden Kapitel schreitet Jung weiter und widmet sich der Auswanderung. «Aufbrüche – im Sog der Welt» (S. 191–265) beschreibt die vielfältigen Formen der schweizerischen Emigration im 19. Jahrhundert. Hier finden sich die weltbekannten Bündner Zuckerbäcker, die «Schwabengänger», die Nachfahren früherer Söldner, die Siedlungs- und Berufsauswanderer in die Neue Welt sowie viele emigrierte Geistliche. Jung richtet seinen Schweinwerfer auf schillernde Exponenten wie den Solothurner Bundesratssohn und Afrikaforscher Werner Munzinger oder etwa den Thurgauer Alfred Ilg, der in Äthiopien zum «Modernisierer» des Landes wurde.

Dass diese Emigration überhaupt möglich wurde, war dem technischen Fortschritt geschuldet, der sich im immer schnelleren Transport- und Reisewesen niederschlug. Jungs drittes Kapitel «Lebensadern – die Verknüpfung der Systeme» (S. 267–359) beleuchtet just jene Technik- und Verkehrsgeschichte. Ostensiv vom Fortschrittsglauben geprägt, setzte nach der Bundesstaatsgründung ein wirtschaftsliberaler Modernisierungsschub ein, der zur Grundlage der wohlhabenden und vernetzten Schweiz werden sollte. (Eisen‐)Bahnen, Schiffe und (Alpen‐)Strassen ermöglichten den Massentourismus und legten so die Grundlagen für den materiellen Reichtum.

Auf die personellen Schöpfer dieses Reichtums geht Jung im Kapitel «Entgrenzung – waghalsige Fortschritte» (S. 361–531) ein. Hier führt der Autor die Wirtschaftspioniere und -kapitäne aus den unterschiedlichsten Branchen ein, die farbige Schlaglichter auf die schweizerische Industrie- und Wirtschaftsgeschichte liefern. Unternehmer, Wissenschaftler, Visionäre und Industrielle betrachtet Jung als Charakteristika der experimentier- und exportfreudigen Schweizer Bevölkerung.

Im abschliessenden Fazit «Schlagzeilen – vom Entwicklungsland zum Laboratorium des Fortschritts» werden die Hauptthesen des Autors präsentiert: Die nach Jung zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stark ländlich und agrarisch geprägte Schweiz habe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Anschluss an andere ‹moderne› Staaten verloren. Grosse langfristige Infrastrukturprojekte hätten es wegen der politischen Struktur der Schweiz schwierig gehabt. Das mag zwar für die Eisenbahn stimmen, jedoch nicht für den Strassenbau. Erst mit 1848 habe sich die von Jung postulierte Blockade lösen können und eine fundamentale Wende weg vom rückständigen und instabilen Armenhaus Kontinentaleuropas hin zur mustergültigen demokratischen Alpenrepublik ermöglicht. Die (aussen‐) politische Stabilität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte diesen Aufstieg und Aufschwung beschleunigt. Dieses klassisch liberale Narrativ des Escher-Biographen ist nicht unbestritten. Dass erst der Bundesstaat von 1848 das vormalige Entwicklungsland aufblühen liess, scheint etwas konstruiert. Eher dürfte es umgekehrt gewesen sein: Das sich entwickelnde Land gab sich mit dem Bundesstaat die geeignete Form. Für diese These würde auch die verhältnismässig starke Industrialisierung der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen. Der kantonale Strassenbau, die Dampfschifffahrt, die Gründung kantonaler Universitäten, das Schulwesen und die weltweit exportierende Textil- und Uhrenindustrie sind alle nicht einfach 1848 vom Himmel gefallen.

Jung lässt keinen Zweifel daran, dass er das «Transport- und Kommunikationswesen » als den «wichtigsten Treiber» im eidgenössischen Transformationsprozess versteht (S. 541, 554–556). Ein engmaschiges und privatwirtschaftliches Bahnnetzwerk, ab 1852 aufgebaut, ermöglichte den Aufbau einer Bildungslandschaft, touristischer Hotellerie sowie die internationale Durchdringung. Mit pünktlichen Zugverbindungen vom Norden in den Süden und vom Westen in den Osten wuchs die Schweiz zusammen. Sie verband weit entfernte Regionen und diverse Kultur- und Sprachräume. Auch wenn die Eidgenossenschaft gemeinhin als rohstoffarmes Land bezeichnet wird, weist Jung zurecht auf die riesigen Wasser- und Steinvorkommnisse hin. Die Wasserläufe erleichterten nicht nur den Transport, sondern waren auch die Grundlage für das Gedeihen der Textilindustrie, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts florierte. Und im 19. Jahrhundert wurden die Hochalpen vom Standortnachteil zur materiellen wie immateriellen Ressource. Es sind diese und viele weitere Einsichten, die Jungs originelle Gesamtschau basierend auf jahrzehntelanger Forschung ausmachen. Der Autor versteht das schweizerische Werden im 19. Jahrhundert nicht als geradlinige Transformationszeit.

Vielmehr betont er verschiedenste thematischen Laboratorien, die er zu einem Panorama der jungen Republik verwebt. Diese wunderbar illustrierte Synthese dürfte noch lange ihresgleichen suchen.

Zitierweise:
Berni, Marcel: Rezension zu: Jung, Joseph: Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 155-157. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.